Gibt es irgendwo ein Ich?

Meditation und Analyse ermöglichen uns, zwischen der Person, die ein Gefühl empfindet, und dem Gefühl selbst zu unterscheiden. (Dalai Lama)

Die Praxis der Meditation kann zu einer existentiellen Erfahrung führen, nämlich der Erfahrung einer inneren tiefen Freiheit. Möglich wird dies, wenn es uns gelingt unsere Gefühle mit Distanz wahrzunehmen. Allerdings nehmen sie uns im Alltag vollkommen in Anspruch, sie sind uns selbst nicht bewusst, so wie dem Fisch das Wasser nicht bewusst ist. Daher handeln wir in der Regel anhand der in unserem Hirn abgespeicherten Reaktionsmuster. Das ist zwar ganz praktisch im alltäglichen Leben, führt aber dazu, dass wir dann glauben keine Wahl mehr zu haben. Wir agieren dann nur noch im Autopilot Modus. Die Freiheit der Entscheidung kehrt erst wieder, wenn wir achtsam sind und uns dieser Vorgänge bewusst werden. Gefühlen sind aber eng in unserem inneren System verankert, sie sind besonders stark. Daher fällt die Unterscheidung von der Person und dem Gefühl selbst, noch schwerer als beispielsweise bei den Gedanken, sie sind einfach schneller. Umso wichtiger ist es, die Fähigkeit mittels der Meditation zu entwickeln, Gefühle und Emotionen mit Abstand wahrnehmen zu lernen.

 

Scharfes Schwert des Mitgefühls

Im Mitgefühl gibt es ein klares Ja, aber auch ein ebenso klares Nein, das vom selben Mut des Herzens getragen wird. Nein zu Missbrauch, Rassismus und Gewalt – auf individueller ebenso wie auf globaler Ebene. Doch dieses Nein kommt nicht aus dem Gefühl des Hasses, sondern aus einer unerschütterlichen Fürsorge heraus. Buddhisten nennen dies das „scharfe Schwert des Mitgefühls“.

aus „Das weise Herz“ von Jack Kornfield 2008 bei Arkana

Leid ist keine Strafe für eine Sünde

Hiob ist die Hauptfigur des gleichnamigen Buches im jüdischen Tanach bzw. im christlichen Alten Testament. Das Buch beschreibt die Lebensgeschichte und das Gottesverhältnis dieses frommen Mannes aus dem Land Uz. Von diesem Namen und seiner biblischen Geschichte sind die sprichwörtlichen Hiobsnachrichten oder Hiobsbotschaften abgeleitet.

Hiob ist seiner Meinung nach, ohne Schuld von Gott bestraft worden, ihm wurde aller Besitz genommen, seine Kinder sterben und er selbst erkrankt an einem bösartigen Geschwür. Seine Freunde bestehen darauf, dass er sich etwas zu Schulden kommen habe lassen, sonst würde er nicht so bestraft werden, ganz nach dem Motto; dem Gerechten geht es gut, dem Gottlosen schlecht. Demzufolge muss Hiobs Leiden durch seine Schuld verursacht sein. Hiob klagt über sein eigenes Leiden, beteuert aber, es nicht verdient zu haben und fordert schließlich Gott selbst heraus. Gott antwortet ihm und betont seine Macht und die Herrlichkeit seiner eigenen Schöpfungswerke. Gott stellt aber nicht Hiobs Unschuld in Frage, gibt also Hiobs Freunden nicht Recht, sondern er stellt die unbegreifliche Größe seines göttlichen Handelns dar. Da Hiob die ganze Zeit über seine gottesfürchtige Einstellung behält, belohnt ihn am Ende Gott, indem er ihm zweimal so viel gibt, wie ihm vorher genommen wurde.

Ich vermute, dass es mehrere Weisheiten gibt, die hier in der Geschichte „versteckt“ sind. Für mich steht aber im Vordergrund, dass Leid keine Strafe für eine Sünde sein muss. Der Umkehrschluss „Wer leidet, muss eine Schuld auf sich geladen haben“ ist also nicht zulässig. Leid ist vielmehr eine Herausforderung des Lebens, an der wir die Möglichkeit zu Wachstum haben, wenn wir das Leid als ein Geschenk annehmen. Der entscheidende Schlüssel zum Glück ist das anzunehmen, was man im Augenblick ist und hat, ohne Selbstvorwürfe oder Vorwürfe gegenüber anderen. Man sollte die unbegreifliche Größe des Daseins akzeptieren und am Ende wird man mit Glück und Wachstum belohnt.

Achtsamkeit im Leiden

Der Dalai Lama betont immer wieder, wie wichtig es ist, den Geist zu schulen, um Leid besser ertragen zu lernen und so dauerhaftes Glück zu erlangen.

Diese Aussage beinhaltet für mich zwei wichtige Aspekte,
1) den Geist für schlechte Zeiten zu schulen und
2) dauerhaftes Glück anzustreben.

Ich habe gerade eine abklingende Erkältung. Die Erkältung kam mit verstopften und gereizten Atemwegen und Nebenhöhlen, starken Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und vieles mehr. Hier von Leiden zu sprechen ist im Angesicht des Leides in der Welt sicher nicht angemessen, es hat mir aber in meiner Situation einen winzigen Eindruck davon gegeben. Ich hatte nun den Eindruck, dass mir meine tägliche Meditationspraxis geholfen hat die Erkältung besser zu ertragen, während der Erkältung ist mir die Praxis aber schwer, teilweise unmöglich, gefallen. Hier habe ich also noch Möglichkeit meinen Geist weiter zu schulen. Die Situation hat mir also gezeigt, wie hilfreich „den Geist zu schulen“ ist, um das Leiden besser zu ertragen und darauf vorbereitet zu sein. Ganz im Sinne von Victor Frankl, dem Begründer der Logotherapie:

„Das Leiden, die Not gehört zum Leben dazu, wie das Schicksal und der Tod. Sie alle lassen sich vom Leben nicht abtrennen, ohne dessen Sinn nachgerade zu zerstören. Not und Tod, das Schicksal und das Leiden vom Leben abzulösen, hieße dem Leben die Gestalt, die Form nehmen. Erst unter den Hammerschlägen des Schicksals, in der Weißglut des Leidens an ihm, gewinnt das Leben Form und Gestalt.“ – Ärztliche Seelsorge, S. 118

Der zweite Aspekt ist der Aspekt der zeitlichen Dimension des Glückes. Es geht im Leben nicht darum kurzfristiges Glück zu erlangen, also die Fokussierung auf die Glücksmomente im Leben, es geht darum, trotz oder gerade wegen des unvermeidlichen Schmerzes Glück zu erlangen. Das heißt sicher nicht, die Glücksmomente zu ignorieren, sie können wahrgenommen und genossen werden. Aber ein Festhalten oder immer wieder Erreichen wollen, führen zwangsläufig zu Leid und Unglück.